Panikanfälle und Lampenfieber - wie kann man damit umgehen?

 

Ein Kollege fragte einmal, wie er mit Panikanfällen und Lampenfieber beim Orgelspielen während des Gottesdienstes umgehen könne. Meine Antwort an ihn möchte ich hier gerne wiedergeben, da sie vielleicht dem einen oder anderen genauso helfen kann, wie sie auch meinem Kollegen geholfen hat. Ich schrieb ihm folgendes:

 

"Du bist ein Mensch und kein Mensch ist perfekt. Jeder Mensch darf Fehler machen und niemand muss irgendetwas perfekt vortragen können.

Die Erwartungen der Gemeinde stehen wahrscheinlich in keinem Verhältnis zu den Erwartungen, die Du dir selber stellst. Wenn Du perfekt sein willst, dann stellst Du dich selber unter Druck. Die Gemeinde will keine Perfektion, sie will Musik zum Ankommen, zum Verweilen, zum Nachdenken, zum Mitsingen.... 

Wenn du eine Strophe zu viel gespielt hast - na und? Wenn Du eine Strophe zuwenig gespielt hast, auch egal. Es ist NICHT schlimm! 

Du hast vielleicht z.B. vergessen, das Halleluja zu spielen, oder Du hast irgendeinen Einsatz verpasst. Kein Problem, auch die Pfarrer vergessen einiges, verplappern sich, bekommen Hustenanfälle, stottern mal herum. Na und? Es macht nix! Es passiert! Selbst Kassettenrekorder haben Bandsalat, Plattenspieler Kratzer und CD-Playerlaser springen.

 

Mach Dir klar, dass der Pfarrer, die Gemeinde und Du wie eine Familie seid, die gemeinsam einen Gottesdienst gestaltet. Es geht nie um einzelne Leistungen. Daher halte ich es auch für verkehrt, wenn manch Organist, sein Können unter Beweis stellen will und irgendwelche Konzertstücke aufführt, die nicht in den Gottesdienst gehören.

 

Die Gemeinde ist froh, wenn ein Organist da ist, der Musik macht. Die allermeisten hören nicht einmal wenn Du einen Fehler machst! Die eigene Wahrnehmung ist immer total verfälscht gegenüber der Wahrnehmung, die andere über dich haben.

Es gibt Tage, da findet man, dass man selbst schlecht aussieht. Mal sieht man älter aus, mal müder, dann findet man sich wieder attraktiver, dann wieder zum zuhause bleiben. Schau Dir dann mal die anderen Leute an. Sehen sie nicht jeden Tag aus wie immer? Oder wie mein indischer Bekannter mal gesagt hat "Ihr Europäer seht doch alle gleich aus!"

 

Schreib Dir ein paar Schlüsselsätze auf, die dir helfen und mache sie Dir so oft es geht bewusst, bis sie selbstverständlich sind.

Z.B. Ich bin gut, so wie ich bin.

Es ist absolut ok, wenn ich Fehler mache, niemand ist perfekt.

Ich habe Freude an der Musik.

usw.

Als Kulturwissenschaftler habe ich mich viel mit Verhaltensformen der Menschheit beschäftigt, aber vieles, was ich jetzt hier schreibe, resultiert aus meinen eigenen Erfahrungen.

 

Im Netz habe ich auch noch diesen interessanten Artikel gefunden, der viel gute und hilfreiche Tipps enthält:

http://www.dr-michael-bohne.de/fileadmin/user_upload/pdf/Artikel_das_Orchester.pdf

 

Darin heisst es: "Chopin hat gesagt, Lampenfieber sei nichts anderes, als mehr zeigen zu wollen, als man kann."

Ich finde, in dem Satz steht schon ein Hauptgedanke drin. Andere Gedanken sind auch:

 

Angst vor Blamage

Angst nicht gut genug zu sein

Kein Selbstbewusstsein, (oder zu wenig)

Falsche eigene Wahrnehmung

....

 

Alle haben mehr oder weniger Lampenfieber. Es gehört dazu. Die einen können besser damit umgehen, die anderen nicht. Aber man kann Techniken anwenden, damit es besser wird. An Weihnachten habe ich mehr Lampenfieber, als bei einem Abendgottesdienst, nur weil mehr Leute da sind und weil man da etwas "Besonderes" spielen "muss". Aber "muss" man wirklich? Und was ist "besonders"?

 

Meistens spiele ich bei Festgottesdiensten dann Stücke, bei denen ICH mich wohlfühle, die noch nicht so ganz neu sind und die ich schon einmal gespielt habe. Es kann auch sein, dass ich extra ein neues Stück übe, aber mir nicht sicher genug bin, wenn es dann soweit ist (z.B. Ostern). Dann kann es sein, dass ich es kurz vorm Gottesdienst einfach wieder wegpacke und etwas spiele, bei dem ich mir sicherer bin. Ich habe also immer eine "Sicherheitsmusik" in der Tasche. Das alles sind meine eigenen Ansprüche und der Gemeinde ist es so ziemlich egal, ob es nun ein Stück ist, das sie vielleicht schon mal gehört haben (aber sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern können), oder ob es ein "Neues" ist (das für mich neu ist).  

 

Überleg Dir mal, was Dir als Gottesdienstbesucher wichtig ist. Du sitzt auf der Kirchenbank, blätterst in den Gesangbuchseiten, hörst die Glocken und wartest bis der GD beginnt. Du denkst nicht darüber nach, dass der Pfarrer total aufgeregt ist und ihm vielleicht die Hände zittern und er einen trockenen Mund hat. Du denkst auch nicht darüber nach, dass jetzt da oben hinter der Orgel ein Organist mit Lampenfieber sitzt. Die Musik beginnt und du kommst einfach an. Der Organist macht Fehler, aber Du merkst es nicht. Der Organist regt sich furchtbar über den Fehler auf, muss aber natürlich weiterspielen, die Konzentration geht flöten und er macht noch mehr Fehler und regt sich noch mehr auf. Du bekommst davon nichts mit, sondern bist in Gedanken versunken. Der Organist verspielt sich ziemlich heftig. Du horchst kurz auf, - war da was falsch? - aber die Musik läuft wieder schön weiter und vielleicht war es einfach nur eine interessante Harmonie, die zur Musik gehört. Der Fehler geht so schnell vorbei und man ist sofort durch neue Musik abgelenkt, dass Fehler gar nicht als solche wahrgenommen werden. 

Der Organist, der das Stück öfter geübt hat und in und auswendig kennt, will dagegen für sich selber fehlerfrei spielen und regt sich dann auf, wenn doch einer passiert. 

 

Mir ging das früher auch so! (und manchmal auch heute noch). Ich wollte immer fehlerfrei spielen, perfekt sein und setzte mich so immer selber unter Druck. Aber für was? Es bekommt ja selten jemand mit?! Seit mir bewusst ist, dass ich einfach so gut ich es jetzt eben kann, schön spielen möchte, mit Musikalität, mit Hingabe und mit dem Zuhören und Fühlen der eigenen Musik, sind mir Fehler immer unwichtiger geworden. 

 

Mit der Zeit hilft auch eine gewisse Routine und das Kennenlernen der Gemeinde, ein kleiner Plausch mit den Leuten, bisschen Kaffeeklatsch und sich wohlfühlen.

 

Was hilft konkret gegen Lampenfieber. Es hilft herumzulaufen um den Adrenalinspiegel zu senken. Man kann magnesiumhaltige Lebensmitteln essen, z.B. Sonnenblumenkerne knabbern; 

Es gibt Klopftechniken (Google: Lampenfieber Klopftechnik), Atemübungen, tief einatmen und versuchen nicht zu viel "Falsches" zu denken oder überhaupt viel zu grübeln. 

"Falsches" ist z.B. Hoffentlich mache ich keine Fehler; Ich muss fehlerfrei spielen; Gleich muss ich spielen; Die Gemeinde erwartet fehlerfreies Spiel von mir; Ich will nichts falsch machen usw.

Positives Denken hilft mir: z.B. Heute spiele ich schöne Musik. Ich gebe mir viel Mühe und es ist gut so, wie es ist und wie es wird. Ich spiele für meine Freunde, für Oma, für Paula, oder irgendjemanden, den ich mag.

 

Du musst also den Fokus Deiner Gedanken verschieben. Das wird vielleicht nicht von jetzt auf nachher gehen und es wird immer gute und schlechtere Tage geben, aber man kann es tatsächlich trainieren! 

 

Ich schätze ein grosser Aspekt ist das Selbstbewusstsein/Selbstvertrauen. Es gibt immer jemand der besser ist als Du. Das denken auch die Profimusiker. Der grössere Teil wird von Selbstzweifeln geplagt, dabei feiert sie das Publikum als Topstars in der Klassikszene oder sonstwo. Es gibt aber eben auch viele, die nicht so gut spielen können wie Du.

Es ist doch toll, dass Du wieder Orgel spielst und es mit anderen teilen möchtest! Sei stolz darauf, dass Du Orgel spielen kannst, so wie Du es eben kannst und viele andere haben Freude daran einfach nur Dir zuzuhören!

Es scheint, dass Du im Leben immer das Gefühl hattest nicht gut genug zu sein, Angst vor Versagen usw. 

Dabei hast Du schon so viel im Leben geschafft, Studium, Beruf, was auch immer! Das ist wichtig, dass Du das anerkennst!

 

Meine beiden begabtesten Schüler sind die schüchternsten. Bei einer Orgelführung trauten sie sich als einzige nicht, wie alle anderen Schüler auf der Orgel zu spielen. Sie sind Scheidungskinder. Man kann an ihrer Körperhaltung sehen, dass sie kein Selbstbewusstsein haben (durch die Erfolge im Klavier spielen wird es aber besser :-) ), aber sie haben privat wieder einen herben Rückschlag erlitten, als der Stiefvater plötzlich auch nichts mehr von Ihnen wissen wollte, wie ihr Vater.

Das krasse Gegenteil ist mein neuester Schüler. Er kann noch kein "richtiges" Stück. Er spiel die Cs, abwechslend mit links und rechts in vorgegebenen Rhythmus. Aber er war immer der erste, der gebrüllt hat, dass er zuerst spielen möchte (wir haben zwei Orgeln angeschaut). Dabei konnte er noch überhaupt nichts spielen!! Er spielte einfach irgendwas und hatte seine Freude daran! Und wir alle haben uns fast die Ohren zugehalten, aber uns darüber gefreut, wie er begeistert die Tasten der Orgel drückt!

 

Stichwort Körperhaltung! Körperhaltung hilft! Setzt dich aufrecht hin. Du bist beim Spielen der Chef an der Orgel, Du machst die Musik - das hilft für das Selbstbewusstsein.

 

Auf meiner Homepage gibt es auch so eine Geschichte über einen Geiger, der so von sich überzeugt war toll zu spielen, dass wir ihm das geglaubt haben und dann kamen nur quietschende Geräusche heraus.... Er liess sich nicht beirren und spielte mit voller Inbrunst.... (es ist die Geschichte Ewigkeitssonntag http://www.klavierunterricht-bei-marion.de/aus-dem-organistenleben/)

Und ihm war es völlig egal, was andere über ihn gedacht haben!

 

Jetzt hab ich wieder viel geschrieben :-) 

 

Liebe Grüsse

marion"

 

Wie geht es Euch mit Lampenfieber? 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Carmen Kastner (Sonntag, 28 Juni 2015 20:15)

    Liebe Frau Langer,
    ihre Zeilen haben mir gerade sehr gut getan. Ich spiele seit meinem 10. Lebensjahr Violine, Klavier und Orgel. Wenn ich meinem "Publikum" glauben darf, auch echt gut. Mein Lampenfieber hatte ich bis auf wenige Ausnahmen wie die großen Gottesdienste oder Konzerte, ganz gut in Schach gehalten.
    Vor 15 Jahren bekamen wir einen Psalmsänger, der sich selbstbewusst als "Kantor" bezeichnete, weil ihm dieser Titel ehrenhalber vom damaligen Pfarrer verliehen wurde, ansonsten ein Autodidakt. Als ich ihn zum ersten Mal auf der Orgel begleiten musste, ging mir halt einfach ein Ton daneben. Er stand am Ambo und schüttelte vor der ganzen Gottesdienstgemeinde den Kopf und sah dabei in meine Richtung. Ich bekam einen Wahnsinns-Schweissausbruch und einen hochroten Kopf. Während des Postludiums begab er sich zur Orgelempore hoch und fing an, mich fertig zu machen: "Wieso hast du den Ton falsch gespielt? Die Leute denken ja, ich kann nicht singen!" Ich war vollkommen von der Rolle und kämpfe seit dem kurz vor dem Gottesdienst mit extremen körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Magendrücken, eiskalten Händen und roten Flecken auf Gesicht und Dekolleté.
    Ich war schon kurz vor dem Aufgeben, aber der neue Pfarrer wollte mich nicht gehen lassen.
    Schade, wie Menschen ihre Mitmenschen mit einem banalen Satz und einer blöden Geste "kaputt machen" können.

    Herzliche Grüße
    Carmen Kastner

  • #2

    Marion (Montag, 29 Juni 2015 23:22)

    Liebe Carmen, das erinnert mich etwas an "meinen" Geiger vom Ewigkeitssonntag. Manchmal ist es wirklich rätselhaft, wo die Leute ihr Selbstbewusstsein hernehmen. Dein "Kantor" hat es sich da ja einfach gemacht und alle Schuld an dich abgeschoben! Nimm es leicht! Gerade solche Leute haben im Innern doch gewaltige Minderwertigkeitskomplexe und wollen sich von anderen abheben, in dem sie sie niedermachen. Ausserdem können gute Sänger auch bei falschen Tönen gut singen ;-) Ich erinnere mich an ein Konzert, bei dem ich die Orgel spielte und plötzlich Cello und Kontrabass rausflogen und aufhörten zu spielen. Die Sängerin bemerkte es, der Kantor zögerte, weil die Beiden nicht gleich wieder hinein fanden, machte aber weiter, als er merkte, dass die Sängerin das durchzog und den Tumult im Orchester ignorierte und plötzlich fanden die beiden auch wieder in ihre Stimme.
    Nimm es leicht - ob richtige oder falsche gespielte Töne - die Gemeinde singt bestimmt selten alle richtigen Töne :D liebe Grüsse marion